Tag 9 – Der Vesuv

Sonntag, den 23. April

Hallo,

gestern tauchten wir tief in die italienische Kultur ein. Der oberste Grundsatz: Regeln sind bestenfalls Anregungen, wie man etwas machen kann, wenn einem nichts Besseres einfällt.
Ein gutes Beispiel ist das Nummernziehen, durch das die Reihenfolge festgelegt wird. Sobald die gezogene Nummer erscheint, ist man dran. Eine einfache Regel, die variiert werden kann.
Wir wollten eine Fahrkarte kaufen. Der Automat informierte uns dahingehend, dass die gewünschte Fahrkarte nicht zur Disposition stehe. Wir konnten das nicht glauben und wollten der Sache auf den Grund gehen. Also suchten wir einen Schalterbeamten.
Wenn man die Schalterhalle betritt, zieht man eine Nummer. Soweit, so einsichtig.

Jetzt kommt die Variation: Man stellt sich in eine Reihe und eine Mitarbeiterin kommt vorbei, um Nummern zu verteilen. Je nachdem, ob man ihr gefällt oder nicht, ist die neue Nummer sehr viel kleiner als die ursprünglich gezogene.
Irgendwann war ich an der Reihe und fragte Fidelio, den Schalterbeamten, nach unserem Wunschziel.
Dafür sei seine Gesellschaft nicht zuständig sagte Fidelio anklagend. Es fehlte nur noch, dass er die Stimme erhob und deklamierte: „Wie? Sie wollen zum Feind?“ Auf Italienisch wirkt das natürlich viel eindrucksvoller.
Was soll man machen, wenn einen nur der Gegner zum Ziel der Träume bringt?
Vorsichtshalber mal lächeln.
Trotz ihrem Hang zum Drama sind Italiener wahnsinnig hilfsbereit. Fidelio verriet mir – quasi unter der Hand-, welche Gesellschaft mich zum gewünschten Ort bringt, und sogar wo das entsprechende Büro ist.

Nach kurzer Suche fanden wir den richtigen Schalter. Vor uns überforderten Jessica und Frank, ein amerikanisches Pärchen, Bernardo sichtbar.
„Buon giorno“, grüßte ich, nachdem die beiden sich zum Schein zurückgezogen. Da kehrten die beiden aus dem Hinterhalt um und wollten noch mal alles Besprochene klarstellen. Es fehlte nicht viel und Frank hätte seinen Anwalt hinzugezogen. Ein Fall höchster Fantasielosigkeit, was glasklare Regeln erfordert.
Als Jessica und Frank endgültig weg waren, schloss Bernardo die Augen und atmete tief durch.
Ich bemühte mich redlich, meine Bitte vorzutragen, ohne den geplagten Mann zu sehr zu quälen. Bernardos italienische Seele jubilierte. Alle Grammatikregeln akzeptierte er als Anregungen und nahm meine Neuinterpretation seiner Sprache gelassen hin.
Matthias und ich bekamen zwei Hin- und Rückfahrkarten, fanden unseren Zug und fuhren zu unserem Ziel: Dem Vesuv.

Im Netz stand, Eintrittskarten zum Naturpark des Vulkans müssten online gebucht werden. De facto war das nicht möglich. Das führte zu viel Verwirrung. Für Italiener kein Problem, für uns Touristen eine Nervenprobe.
Es dauerte zwar etwas, aber schlussendlich bekamen wir zwei Bustickets und zwei Eintrittskarten.
Bis zur Abfahrt blieben uns zwei Stunden. Zeit genug, um Herculaneum zu besuchen und um zu essen.
Am Busparkplatz oben auf dem Vesuv hatten wir etwa eineinhalb Stunden Zeit, bis zum Kraterrand hinauf- und wieder herunterzusteigen. Das war zwar machbar, aber sehr knapp bemessen. Ich hätte gern einfach mal dagesessen und geguckt. Dafür reichte die Zeit nicht.
Zurück in Neapel beschlossen wir, in die Altstadt zu gehen. Was für ein Gedränge und Gehupe! Fußgänger und Autos nehmen denselben Weg. Für eine offizielle Aufteilung in Fahrbahn und Fußweg wäre kein Platz. Dazu sind die Gassen schlichtweg zu eng.

Wir fanden einen Fish-und-Chips-Stand, besorgten uns frittierte Anchovis und unsagbar fettige Fritten und futterten munter vor uns hin, als Ricardo und Francesco auftauchten.
Sie hatten ihre Eltern dabei und machten das Abendessen zum Event.
Nach einer Weile fragte Matthias, ob wir weiterziehen sollten, oder ob ich weiterhin in große Kinderaugen schauen wolle.
Die Wahl fiel zwar schwer, aber die beiden Kleinen waren kurz vor dem Kipppunkt. Da werden die Augen klein und die Stimmung sinkt. Ein Segen für den, der rechtzeitig weitergezogen ist.
Unser Bier tranken wir weit weg von Ricardo (3) und Francesco (bald ein Jahr), dafür aber in der Nähe unserer Betten.
Unterwegs erwarben wir noch einige Mitbringsel für daheim.
Ab morgen gelten Regeln wieder als Norm mit wesentlich weniger Gestaltungsspielraum.
Schade eigentlich.

Es grüßt dich
Pinky

ArtGedeck Michéle Pinkernel

@2023 - ARTGEDECK, Michèle Pinkernell

de_DE