Tag 8 – Neapel

Samstag, den 22. April

Hallo,

als ich gestern aufgewacht bin, hab ich meiner Tante zugestimmt: Neapel? Bloß nicht!
Hier ist es laut.
Immer!
Das ändert sich den ganzen Tag nicht.
Zu einer wahrhaft unchristlichen Zeit verdoppelte sich der Lärm. Ich stand senkrecht im Bett. Den Grund dafür zu verstehen, dauerte einen Moment. Ein durchdringender Singsang ging durch Mark und Bein, wiederholte sich, steigerte sich, ebbte etwas ab und begann von vorn.
Am Vorabend waren wir an einer Moschee vorbeigekommen und hatten dabei an nichts Böses gedacht. Das änderte sich – jetzt. Es war Freitagmorgen. Freundlich aber bestimmt forderte der Muezzin zum Freitagsgebet. Damit durfte er getrost zu einer unchristlichen Zeit anfangen. Mich hatte er insoweit bekehrt, dass ich unchristliche Gedanken hatte.
Was für eine Ausdauer! Matthias neben mir schlief, ich bekam Kopfweh.
Irgendwann wurde Matthias wach, wir standen auf und frühstückten in der Küche, die auf den Innenhof hinausgeht. Durch die geschlossene Zimmertür hindurch verbreitete der Muezzin stoisch lärmend seine Botschaft. Und dann – ohne erkennbaren Grund – war es still.
Bei der Rückkehr ins Zimmer hörten wir zwar noch den Straßenlärm, aber das Freitagsgebet war vorbei.

Dann wollten wir uns Neapel mal aus der Nähe betrachten.
Was sollte ich anziehen?
Sandalen mit Socken?
Dann wäre ich eindeutig als Deutsche zu erkennen.
Allerdings erinnerte ich mich daran, dass die Pfützen vom Dauerregen der letzten Woche noch gut gefüllt sind. Also doch feste Schuhe. Schade!
Im Laufe des Tages änderte ich meine Meinung etwas. Über Neapel, nicht über meine Schuhwahl. Aber erst nachdem mein Kopf nicht mehr weh tat.
Mir gefiel der Trubel sogar: Farblich fielen Leute im besten Freitagsstaat auf. Sie schritten in leuchtenden Gewändern durch die wuselnde Menge.
Außerdem waren mehrere lorbeerbekränzte Leute unterwegs. Eine Schärpe verriet den Grund für den Aufzug.
„Dotoressa“, stand darauf.
Sie hatten also ihr Studium abgeschlossen und wurden dafür gefeiert. Ich erklärte Matthias, dass „laureata“ zwei Bedeutungen hat: lorbeerbekränzt und Absolventin.
Dazwischen freuten sich andere in Schalkekostümen. Überall in der Stadt hatten sie dekoriert. Weiß und blau flatterten Fahnen und Wimpel zwischen kreuz und quer gespannten Absperrbändern.

Wir machten einen weiten Bogen bis zum Meer. Dort wäre es ruhiger gewesen, wenn die Leute die Segel an ihren Surfbretter nicht durch Motoren ersetzt hätten. Wer keinen Rasenmäher, Kärcher oder Laubbläser hat, muss sich halt mit einem Motor am Surfbrett Gehör verschaffen.
Beim Blick in die Gegenrichtung fiel uns auf, dass sich Neapel auch über einen Berg erstreckt. Wikipedia verriet uns, dass vier Seilbahnen hinaufführen, verschwieg aber, dass eine davon außer Betrieb ist. Natürlich die, die in unserer Nähe war. Welche sonst? Also stiegen wir zu Fuß hinauf.
Mir fiel auf: Nicht nur auf Capri gibt es Treppen. Neapel ist da eine echte Konkurrenz. Allerdings sind sie hier weniger steil, weniger ausgesetzt und weniger bewachsen. Und – man kommt sehr gut ohne Machete voran.
Vom Trubel der Unterstadt ist oben nichts zu hören. Die machen hier ihren eigenen Lärm, dazu haben sie jedes Auto mit einer Hupe ausgestattet. Ich hege den Verdacht, dass die Hupe direkt mit Gangschaltung und Bremse gekoppelt ist. Das würde einiges erklären.

Wir konnten von oben alles erkennen. Diesmal erklärte Matthias mir, was ich da sah. Capri, den Vesuv und die Küste bis Sorrento.
Bergab nutzten wir eine Seilbahn. Die Bergstationen liegen nahe beisammen. Wir hatten also freie Wahl. Irgendwann hatte ich den Lärm vergessen. Ich nahm ihn nicht mehr wahr. Ich redete einfach lauter.
Die Italiener, mit denen ich ins Gespräch kam, wunderten sich, dass wir Deutsche sind. Ohne Socken und Birkenstocksandalen ist man wirklich optimal getarnt. Ich bat, dass sie unser Inkognito niemandem verraten sollten, sonst dürften wir in Deutschland nicht mehr einreisen.
Es ist erstaunlich, wieviel einem die Leute glauben, wenn man eine Sprache nur schlecht genug spricht. Keiner kann sich vorstellen, dass jemand all die Mühe auf sich nimmt, nur um andere Leute zu veralbern. Vielleicht wären mir die Leute eher auf die Schliche gekommen, dass ich einen Scherz gemacht hatte, wenn ich vorher behauptet hätte, Engländerin zu sein. Allerdings bin ich Realistin genug, um zu wissen, dass ich damit sofort auffliege. 

Gerade in Touristengebieten hat sich viel getan. Vor 30 Jahren kam man hier nur mit italienisch weiter. Das hat sich geändert. Inzwischen kannst du auf Englisch nach dem Weg fragen und bekommst eine verständliche Antwort. Selbstredend kommen dabei die Hände zum Einsatz, was aber bei Richtungsangaben für mich als Verwechslerin von rechts und links eine echte Bereicherung ist.
Mit Plänen für den heutigen Tag, läuteten wir den Abend ein. Ich hätte das gern mit Glockengeläut zur Samstagmesse begleitet, um mich für den Morgen zu revanchieren. Deshalb muss ich dringend eine Glocken-App auf meinem Handy installieren.

Es grüßt dich
Pinky

P. S.: Ich wurde darauf hingewiesen, warum das Freitagsgebet so laut war. Es war Bayram, das Zuckerfest, also Ende des Ramadan. Ähnlich wichtig wie Ostern oder Weihnachten. Ok, an diesen Feiertagen halten katholische Kirchenglocken ihre Nachbarn auch erfolgreich vom Schlafen ab.

ArtGedeck Michéle Pinkernel

@2023 - ARTGEDECK, Michèle Pinkernell

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