Tag 1 – Die Abreise

Montag, 19. Juni

Hallo,

Manche Leute sind wahnsinnig aufgeregt, wenn sie verreisen. Ich bin die Ruhe selbst.

Als ich gestern um 5.00 Uhr morgens aufwachte, war ich bereits auf Betriebstemperatur. 5.00 Uhr ist echt eine saublöde Zeit, um aufzuwachen. Da ist nichts los. Alle schlafen. Wenn du Nachrichten verschickst, dauert es Stunden, bis die erste Antwort kommt. Das nervt.

Gegen 7.00 Uhr wurde es mir im Bett aber doch zu langweilig. Keiner hatte sich bis dahin gemeldet. Also stand ich auf. Weil wirklich nichts los war, zog ich aus lauter Verzweiflung meine Joggingsachen an und lief los.

Eine ganz neue Erfahrung für mich. Um diese Zeit begegnete ich nur Menschen mit Hund oder Leuten, die einen brüllenden Kinderwagen schoben. Dieser Personenkreis war somit nicht freiwillig unterwegs. Er steht quasi unter Hunde- oder Kinderzwang.

Nachdenklich lief ich weiter. Mich beschäftigte die Frage, was das über mich aussagt.

 

Wahrscheinlich, dass ich ein inneres Kind und einen inneren Hund habe, die mich um 5.00 Uhr morgens wecken.

Also: Das Kind behalt ich. Sobald es in die Pubertät kommt, nehme ich fürchterliche Rache und wecke es am Wochenende um 5.00 Uhr morgens. Aber was mache ich mit dem Hund? Wenn ich mit dem zum Tierheim gehe, holen die doch sofort einen Rettungswagen. Dann sitz ich mit den beiden in einer Zelle und bin ihnen hilflos ausgeliefert. Vielleicht könnte das Kind dazu bringen, den Hund Gassi führen, damit ich weiterschlafen kann? Ob das klappt? Selbst bei Rundenende, hatte ich keine gute Lösung für das Problem.

Als ich zu Hause ankam, waren alle wach. Da hätt ich auch daheim bleiben können.

Ich duschte, wir frühstückten, dann füllte ich die Wasserspeicher der Blumentöpfe.

Hmm? War da noch was?

Ach ja. Stimmt. Packen!

 

Matthias hatte bereits alle Koffer nach oben befördert. In unserem Schlafzimmer herrschte ein heilloses Chaos. Ich kämpfte mich durch die Kofferberge bis zu meinem Schrank und fragte, ob ich einen der Koffer benutzen könnte oder ob bereits alle verplant seien.

Nein, ich hätte freie Auswahl.

Behutsam merkte ich an, dass im Keller bereits eine gewisse Vorauswahl hätte stattfinden können. Ich will ja nicht kleinlich sein. Es gibt schließlich viele Packtechniken, und ich bin keineswegs die oberste Packinstanz.

Hätte, räumte Matthias ein. Aber im Keller kann man nie überprüfen, wie viele der Koffer, denen wir ein Heim bieten, überhaupt noch eine Reise überstehen.

Ich musste ihm recht geben. Unter uns gesagt, halte ich Sonntagmorgen an einem Abreisetag nicht für den besten Überprüfungszeitpunkt. Solche Überlegungen kann ich in aller Stille durchführen. Auch in meinem Gesicht verrät kein Muskel, was ich mir so denke. Das ist auch besser so. In vielen Fällen wäre mein Umfeld sonst irritiert.

Dass alle Koffer der Überprüfung standhielten, förderte den Familienfrieden. Die meisten von ihnen durften also wieder an ihren angestammten Platz zurück, wo sie fleißig Staub und Spinnweben sammeln. Ich nehme an, das geschieht zu Tarnzwecken.

Gegen 13.00 Uhr waren wir fertig und fuhren los. Nach kurzer Zeit erhielt Matthias einen Anruf. Ich hätte mein Handy zu Hause liegen lassen. Also nochmal zurück. Bereits bei unserem zweiten Anlauf kamen wir bis zum Flughafen nach Weeze. Ich hab das auch schon anders erlebt. Ich kann wahnsinnig gut, Sachen vergessen. Deshalb fahren wir immer schon sehr früh los.

Weeze liegt westlich von Coesfeld, allerdings noch in Deutschland. Deshalb finde ich es immer wieder faszinierend, dass eine Fahrt nach Weeze fast zwei Stunden dauert. Bis zur holländischen Grenze sind es von uns auch 35 Minuten. Woher kommt diese Zeitdifferenz? Meine Vermutung ist, dass bei der Streckenführung am Flughafen  ein Stararchitekt seine Kreativität voll ausgelebt hat. Beim Abflug wollte ich deshalb genau aufpassen, ob rund um Weeze viel Asphalt zu sehen ist. Aber das Aufpassen war umsonst, weil das Wetter den Architekten schützte. Wir flogen durch eine dicke Wolkenschicht und hatten danach freie Sicht auf ein Wolkenmeer.

 

Dieses Geheimnis zu lösen, verschob ich, denn das Handy meines Sitznachbarn zog mich in seinen Bann. Das ist, wie wenn man jemanden beobachtet, der in der Nase bohrt. Man weiß genau, was für ein Grauen einen erwartet, aber man kann nicht wegschauen.

Aber ich schaute weg, als Mick und Linda vom Bordpersonal uns aufforderten auszusteigen. Die Koffer seien bereits auf dem Gepäckband und das Flugzeug werde wieder gebraucht, sie müssten jetzt wieder zurück nach Weeze.

Es gibt schon hektische Leute. Ich gehöre nicht dazu. Ich bin die Ruhe selbst.

Schöne Grüße
Pinky

                                
ArtGedeck Michéle Pinkernel

@2023 - ARTGEDECK, Michèle Pinkernell

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