Tag 11 – Schau bloß nicht weg!

Donnerstag, der 29. Juni

Yachthafen bei wolkenverhangenem Himmel.

Hallo,

kennst du das? Du schaust irgendwo hin und weißt, dass etwas fehlt. Du hast kurz mal weggeschaut und in der Zeit hat jemand etwas weggenommen.

So ging es mir gestern Morgen. Zugegeben, ich hatte etwas länger weggeschaut. Eine ganze Nacht, um genau zu sein. Dafür fehlte aber ein ganzer Berg. Ich guckte also am Morgen aus dem Fenster, und – Pico war weg.

Wer betreibt denn so viel Aufwand, um Touristen zu foppen? Immerhin ist Pico der höchste Berg Portugals. Spaßvögel!

Timo und Matthias sind zwei sehr bewegungsfreudige Menschen. Wahrscheinlich hatte das Verschwinden des Pico bei ihnen die Panik ausgelöst, dass sich in den Folgetagen Berg um Berg fortschleicht. Selbst wenn ich dieselbe Befürchtung hätte, würde ich ruhig bleiben. Hier stehen so viele Berge rum, dass ich mir erst in ein paar Jahrzehnten Sorgen machen würde.

Die beiden wollten zum Strand. In ihrer Bewegungsfreude machten sich beide auf den Weg und nahmen die direkte Route über den Monte Queimado. Ich wollte sie noch darauf aufmerksam machen, dass es auch einen Weg ohne Höhenunterschied gibt, war aber zu langsam. Durch ihre bisherigen Erfahrungen in Lissabon kam ihnen diese Möglichkeit gar nicht erst in den Sinn.

Durch Rundhölzer befestigter Steig auf einen Berg. Der Steig führt in einer geschwungenen Kurve nach links oben.
Blüte einer Kapuzinerkresse

Leichtfüßig stiefelten sie den Berg hinauf. Ich keuchte hinterher. Um mich weniger auf meine Lage zu konzentrieren, beobachtete ich meine Umwelt. Eine Möwe ließ sich vom Aufwind nach oben tragen. Richtig sicher sah das Manöver aber nicht aus. Sie trudelte ein wenig, schien es aber zu genießen. Also gibt es auch in Möwenkreisen Adrenalinjunkies. Am Wegrand wuchs ein ganzer Kräutergarten Kapuzinerkresse, Minze und Dill. Ganz schön extravagant. Ich fragte mich, wer hier heraufsteigt, um das alles zu ernten.

Auf dem Gipfel stellt ich fest, dass Timo und Matthias bereits unten waren. Fairerweise saßen sie nicht in einem Café und futterten sich auch nicht durch die Karte. Timo schaute angestrengt in die Richtung, wo am Vorabend noch der Pico gestanden hatte. Es war ihm also auch aufgefallen.

Als ich unten ankam, gingen wir weiter zum Strand. Schwarzer Sand trieb in kleinen Wölkchen über den Boden. Ich dachte dabei an nichts Böses sondern genoss das Gehen auf dem weichen Untergrund. Zurück auf der Straße stellte ich fest, dass die Wölkchen nicht zum reinen Zeitvertreib unterwegs waren. Ein Großteil von ihnen hatte sich in meinem Schuh angesammelt. Wahrscheinlich war es dem Sand zu mühsam, den Weg selber zurückzulegen. Da ich offensichtlich in die gewünschte Richtung ging, nahm er wie selbstverständlich an, dass es mir nichts ausmachen würde, ihn dorthin zu tragen. Es machte mir aber etwas aus und ich war genervt, weil er nicht freiwillig meine Schuhe verließ.

Junger Mann sitzt an Atlantikküste auf einem Rasenstreifen- Das Wasser umspült schwarze Felsbrocken.
Baumbewachsene Bergkuppel. Er läuft auf der einen Seite in einem Sandstrand aus. Auf der anderen Seite sind ein paar Häuser.

Während ich den Sand zur Strafe neben den Strand kippte, erspähte Matthias den Monte da Guia, einen weiteren Berg, der vorher durch den Monte Queimado verdeckt gewesen war. Er schlug vor, hinauf zu steigen. Drei ist bei Abstimmungen eine heikle Zahl. Ich wies auf Minderheitenrechte hin. Sie entgegneten, es stehe mir selbstverständlich frei, unten zu warten.

Bei diesem Berg kam mir der Zufall zu Hilfe. Irgendjemand hatte ein ganzes Stück unterhalb des Gipfels einen Zaun so geschickt aufgestellt, so dass man nicht weiter hinaufsteigen konnte. Ich merkte an, dass es bei diesem Berg auch die Möglichkeit gegeben hätte, mit dem Auto hoch zu fahren. Was red‘ ich?

Als ich mich von der Wanderung erholte, recherchierte ich ein bisschen. Wir waren auf Faial. Laut Wikipedia ist das die fünftgrößte Azoreninsel. Es gibt neun Hauptinseln. Moment, nachdem Pico verschwunden ist, ist Faial jetzt die viertgrößte Insel. Ich muss unbedingt einen neuen Wikipedia-Eintrag verfassen.

Es grüßt dich

Pinky

Dilldolden kurz nach der Blüte.
…und hier geht’s zum Video

Tag 11 – Schau bloß nicht weg!

ArtGedeck Michéle Pinkernel

@2023 - ARTGEDECK, Michèle Pinkernell

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