Tag 10 – Heimreise

Montag, 24. April

Hallo,

gestern ging’s wieder zurück.
Reisetechnisch war es prima, erzähltechnisch ein Totalausfall. Es wäre hilfreich gewesen, wenn wir zumindest den Bus verpasst hätten. Nach dem morgendlichen Schlendern aus unserer Unterkunft erreichten wir einen früheren Bus.
Mit uns zusammen fuhren Maria und Ferdinand. Neidisch lauschten wir ihrem Bericht. Die zwei hatten auf ihrer Rückreise bereits einiges erlebt. Sie waren mit dem ersten Zug aus Pompeji aufgebrochen und ordentlich verspätet in Neapel angekommen. Diesen Bus, von dessen Pünktlichkeit sie keineswegs überzeugt waren, hatten sie gerade noch erwischt. Am Flughafen hatten sie lächerlich wenig Zeit, um einzuchecken. Nervös blickten sie immer wieder auf ihre Uhren.

„Wo müsst ihr denn noch hin?“, fragte ich. Irgendwie musste ich sie von dem ständigen Uhrgegucke abbringen. Mir wurde davon schwindlig. Die beiden verwandelten für mich den Bus in ein Boot bei Mare mosso.
„Nach Wien“, erklärte Ferdinand und ergänzte, woher der Zeitdruck kam: „in einer Stunde geht der Flug.“
Kontrollblick auf die Uhr. Ich war auf der falschen Spur.
„Wann seit ihr denn in Neapel angekommen?“, hakte ich nach.
„Am Donnerstag“, antwortete Maria.
„Ach, wir auch“, unterstrich ich eine Gemeinsamkeit.
Zusammen suchten wir nach mehr Dingen, die uns verbanden. Erfreulicherweise hatten wir ebenfalls Pompeji, Herculaneum und den Vesuv besucht.
„Wir sind jeden Tag 20.000 Schritte gelaufen“, trumpfte Ferdinand auf.

Bei dem Programm hatte sich das nicht vermeiden lassen, dachte ich. Konnte ich es wagen, von unserem eingeschlagenen Kuschelkurs abzuweichen und auf Unterschiede hinzuweisen? Immerhin sind wir Piefkes, also von Österreichern allenfalls geduldet. Ich ging aufs Ganze und erzählte, dass wir bereits Sonntag in Neapel gelandet seien. Die beiden hörten interessiert zu. Ich berichtete von Antonio, dem Mare mosso und der blauen Grotte. Ich lieferte sogar die physikalisch richtige Erklärung für das Licht in der Grotte. Das Wasser filtert als erstes den roten Anteil des Sonnenlichtes heraus. Was übrigbleibt, sieht man in der blauen Grotte in Capri und auch in vielen anderen Grotten wenn ihr Eingang durch Wasser von der Außenwelt getrennt ist.
Die beiden guckten entspannt. Ganz überraschend hielt der Bus, die Tür öffnete sich, wir waren am Flughafen.
Wir waren die ersten, die eincheckten. Für Maria und Ferdinand endete an dieser Stelle der Spannungsbogen. Sie erreichten tiefenentspannt ihren Flug. Es passierte nichts weiteres, was sich zu erzählen lohnt.

Beim Warten auf den Flug lauschte ich den Lautsprecheransagen der verschiedenen Fluggesellschaften. Ein Sprecher, ich nenne ihn John, verkündete in bestem Oxford-Englisch, dass dies der letzte Aufruf für den Flug XY nach Posemuckel sei. (Den Ort hab ich nicht verstanden.) Gleich darauf wurde John von einem zweiten Sprecher, er mag Giovanni heißen, auf Italienisch Lügen gestraft. Denn jetzt rief er zum letzten Mal für den gleichen Flug auf. John konnte das nicht auf sich sitzen lassen und wiederholte seine Ansage.
Die beiden battelten sich eine Weile. Keiner wollte nachgeben. Dann funkte eine Ansagerin, meinetwegen Barbarella, von British Airways dazwischen. Mit ausgeprägtem italienischen Akzent sagte sie ihren Text auf. Mal auf Englisch, mal auf Italienisch. Klang beides gleich.
Es war umsonst. John und Giovanni stritten gleich darauf weiter, wer nun wirklich den letzten Aufruf machen würde.

Vitas, ein lettischer Flugbegleiter, begrüßte uns lächelnd im Flugzeug. Er lächelte den ganzen Flug hindurch. Erst als ich beim Aussteigen die Gepäckklappe schloss, weil ich mir den Kopf daran gestoßen hatte, hörte er auf zu lächeln. Die müsse jetzt offen bleiben. Grazyna, eine Flugbegleiterin mit langem blonden Zopf, schritt den Gang entlang. Ihr Zopf schlug bei jedem Schritt bedrohlich abwechselnd nach rechts und links zur Seite aus. Ich gab jeden Widerstand auf.
Wir holten unsere Koffer, fanden unser Auto und fuhren heim. Wie gesagt: Von der Heimreise gibt’s nichts zu berichten.
Auf der A31 überlegte ich mir noch, wie ich denn nun zu Neapel stünde. So wie meine Tante oder so wie Goethe?
Wie waren die beiden zu so unterschiedlichen Urteilen gelangt?
Meine Tante hatte wahrscheinlich versucht, sich perfekt zu integrieren und somit das Urteil der Norditaliener über den rückständigen Süden übernommen. Goethe hatte wohl in Weimar einige unerledigte Geschäfte zurückgelassen. Mit seinem Tod wäre er ihnen erfolgreich und dauerhaft aus dem Weg gegangen.
Ich bin für einen Kompromiss: Neapel sehen und sterben – bloß nicht.

Schöne Grüße
Pinky

ArtGedeck Michéle Pinkernel

@2023 - ARTGEDECK, Michèle Pinkernell

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