Tag 7 – Pompeji

Freitag, den 21. April

Hallo,

gestern hatten wir ein straffes Programm. Da wir als erstes nach Sorrento übersetzen wollten, fiel mein Frühstück weniger üppig aus als sonst.
Matthias ermutigte mich, mehr zu essen. Ich blieb skeptisch. Ich weiß, dass ein Boot mehrere Möglichkeiten hat, zu schaukeln: Dreht es sich um die Längsachse, heißt die Bewegung Rollen. Schaukelt es um die Querachse, spricht man von Stampfen. Bei der Bewegung um die Achse Richtung Erdkern heißt es Gieren. Aus privaten Langzeitstudien weiß ich, dass mir von allen dreien schlecht wird und dass es nicht besser wird, wenn man die Schaukelachsen kombiniert.
Auf der Rückfahrt stampfte das Schiff fröhlich vor sich hin, allerdings so moderat, dass mein Magen gedanklich hinterherkam. Der Ausdruck mare calmo prägt sich weit schlechter ein als mare mosso. Mare calmo ist eine bloße Vokabel ohne greifbares Ergebnis.

Von Sorrento haben wir nicht viel gesehen, auch wenn der Reiseführer das Tal der Mühlen und die Aussicht empfiehlt. Sollte ich jemals einen Strohhut in Einheitsgröße, eine zu kleine Handtasche oder ein buntes Tuch brauchen, ist Sorrento meine erste Anlaufstelle. Vom Hafen bis zum Bahnhof säumen die Läden die Straße. Aufgefädelt wie Perlen.
Wir stiegen in den Zug Richtung Neapel und fuhren bis Pompeji. Ich hab mitgekriegt, dass der Vesuv die Stadt vor längerer Zeit vollständig ausgelöscht hat. Frau Auer, meine Lateinlehrerin, hat das ausführlich erklärt. Sie meinte, Pompeji wurde wieder ausgegraben. Die Menschen seien mitten in einer Alltagsbewegung gestorben und man könnte sich all das anschauen.
Der Gedanken machte mich damals schon traurig – Forschergeist hin oder her. Müssen die Menschen wirklich ausgestellt werden? Ich hab stattdessen die Straßen fotografiert.

Da gab es Bürgersteige, Zebrastreifen und tiefe Fahrrillen.
Matthias zeigte mir einen Stadtteil, der noch nicht ausgegraben war: Hinter der Fassade erhob sich ein bunt bewachsener Erdhügel.
Die Änderung des Stadtbilds hatte ich nur unbewusst wahrgenommen. Ich hatte mich lediglich darüber gefreut, dass Gras und Mohn etwas mehr Kontrast in die Bilder bringen. Dass die bunte Flora daher rührte, dass hier noch viel zu tun war, wurde mir da erst klar.
Es war Zeit aufzubrechen. Zurück zum Bahnhof, Gepäck holen und nach Neapel weiterfahren.
Mal sehen, wie es dort ist.

Johann Wolfgang von Goethe meinte: „Neapel sehen und sterben.“
Meine Tante: „Neapel? Bloß nicht!“
Im Gegensatz zu Goethe konnte meine Tante italienisch. Das Goethe-Zitat ist ungenau übersetzt. Es lässt das Wortspiel weg.
„Vedi Napoli e poi muori“ könnte auch heißen: „Schau dir zuerst Neapel an und dann Muori.“
Was eigentlich als Werbe-Offensive des Stadtmarketingvereins von Muori gedacht war, hat Goethe boykottiert.
Um mir selbst davon ein Bild zu machen, muss ich nach Muori.
Wo liegt das eigentlich?

Schöne Grüße
Pinky

ArtGedeck Michéle Pinkernel

@2023 - ARTGEDECK, Michèle Pinkernell

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