Tag 9 – Verloren im Kaufhaus

Dienstag, der 27. Juni

Hallo,

gestern musste ich an den Percy-Jackson-Roman „Diebe im Olymp“ denken. Bei seinem verzweifelten Versuch die Welt vor dem Untergang zu retten, gerät Percy in ein Hotel, in dem er alle Zeit vergisst. Erschreckt fällt ihm auf, dass er sich bereits seit einer Woche dort befindet, obwohl er unter enormen Zeitdruck ist, weil die Welt haarbreit vor der völligen Vernichtung steht. So oder so ähnlich hat sich das Rick Riordan ausgedacht.

Nach einer anstrengenden Kletterpartie kam ich am Einkaufszentrum Amoreiras vorbei, das auf einem hohen Berggipfel liegt und weit in den Himmel ragt. Eine Werbetafel weist auf einen 360°- Panoramablick über Lissabon hin. Das klang verlockend. Eine kühle Brise aus dem Inneren verstärkte den Reiz.

Zwei Straßenbahnen fahren auf einer abschüssigen Straße aneinander vorbei. Die Wägen sind mit Graffiti besprüht. Auf der linken ist ein großes G, auf der rechten ein großes.
Zwei Portale werden von je einem Hufeisenförmigen Bogen eingeschlossen. Sie sind der Zugang zu einem Gebäude, Passanten laufen daran vorbei.

Einmal drinnen, verlor ich sofort die Orientierung. Hier gibt es weder Zeit noch Raum. Die Hinweisschilder innerhalb des Kaufhauses weisen freundlicherweise daraufhin, wo man etwas essen oder sich erleichtern kann. Zu spät merkte ich, dass ich mich mit jedem Schritt hinein weiter verirrte. Ich stand in einer Venusfliegenfalle. Nun gut, vielleicht könnte ich ja erstmal die Aussicht genießen, wenn ich schon mal drin bin.

Der Plan war gut, aber aussichtslos. Das letzte Mal war vor dem Laden auf die Aussichtsterrasse hingewiesen worden, drinnen war davon keine Rede mehr. Ein klassisches Lockvogelangebot. Natürlich hätte ich das Nächstliegende tun können: Mich einfach in ein Café setzen und warten, bis die Angestellten in der kühlen Abendluft nach Hause gingen. Aber bereits nach dem vierten Kaffee konnte ich nicht mehr ruhig sitzen.

Es wurde Mittag. Die Anzahl der Menschen im Einkaufszentrum vergrößerte sich. Ich hängte mich an die Fersen eines Mannes, der portugiesisch aussah darauf hoffend, dass er den Weg nach draußen finden könnte. Tapfer folgte ich meinem Guide in drei Geschäfte. Er hatte bereits alle Hosen in einem Laden anprobiert, war in alle verfügbaren Sakkos in einem zweiten geschlüpft und hatte jeden einzelnen Schuh aus den Regalen eines dritten genommen. Inzwischen hatte er bereits ein Paar Schnürsenkel gekauft. Wenn ich ihm weiterhin folgen würde, könnte ich nicht mehr für seine Sicherheit garantieren.

Also wechselte ich die Strategie. Die Menschen waren aus einem bestimmten Grund hier: Sie wollten sich abkühlen.

Ein schmiedeeiserner Turm ragt sechs Stockwerke nach oben. Oben ist eine Plattform mit Brüstung. In dem Turm fährt ein Fahrstuhl, um Menschen von der Unter- in die Oberstadt zu bringen.
Ein Pflastermosaik aus schwarzen und weißen Pflastersteinen. Weiße Bänder schlingen sich umeinander.

Ich blickte mich um. Viele Leute hatten Schnürsenkel in der Hand. An denen konnte ich mich nicht orientieren. Aus einer Richtung kamen ausschließlich senkellose Leute. Die hatten eindeutig rötere Köpfe. Ich lief ihnen entgegen. Konsequent gegen einen Menschenstrom anzulaufen, erfordert einige Konzentration. Aber es lohnte sich. Nach einer Weile entdeckte ich Schweißtropfen auf dem Boden. Das war zwar nicht schön, aber brachte mich dem Ausgang näher. Dann ein Hitzeschwall. Es kostete mich übermenschliche Kraft, dem Impuls, wieder umzukehren, zu widerstehen, aber mein Wille hier rauszukommen, war stärker.

 

Endlich Sonnenlicht. Ich lief darauf zu und stand fünf Minuten später in tropfnasser Kleidung auf dem Gehweg. Wo war Matthias eigentlich? Einer Eingebung folgend lief ich ins Hotel. Er lag mit einem kühlen Getränk am Pool und guckte sehr zufrieden. Nachdem ich mit dem gleichen Getränk danebenlag, guckte ich auch zufrieden.

„Ich könnte neue Schnürsenkel gebrauchen“, sagte Matthias.

„Ich kenn‘ da einen Laden.“

Jetzt kann ich verstehen, warum Percy Jackson in einem Hotel die Zeit vergessen hat. Mein Fazit: An so einem Pool lässt es sich auch allein ganz gut aushalten.

Es grüßt dich

Pinky

Ein Mann in einem Pool auf einem Dach schaut auf Berge in der Ferne.
…und hier geht’s zum Video

Tag 9 – Verloren im Kaufhaus

ArtGedeck Michéle Pinkernel

@2023 - ARTGEDECK, Michèle Pinkernell

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